Das mächtige Bollwerk Glaubender

Das mächtige Bollwerk Glaubender

„Die Lehre von der Prädestination, einst ein kostbares Erbstück, taucht heute nur hin und wieder auf theologischen Flohmärkten auf“, so Heiko A. Oberman (s. Foto) in seinem Zwei Reformationen. Der große niederländische Reformationsexperte (1930–2001), der lange in den USA lehrte, hat recht. Auf mehrglauben.de wird die heutige Stimmung so umschrieben: “Dass Gott scheinbar einige Menschen zum Glauben vorhersieht und andere nicht, kann sowohl Christen als auch Nicht-Christen sauer aufstoßen. Überhaupt ist der Gedanke eines Gottes, der völlig unabhängig Menschen zum Heil erwählt, für einen Menschen des 21. Jahrhunderts ein Schlag ins Gesicht.” Und tatsächlich: Wo liest man heute noch Abschnitte wie im Hamburger Baptistenbekenntnis von 1847? Dort wird die Erwählung in Art. VII eine „teure Lehre“ genannt; eindeutig und klar heißt es:Oberman

„Wir glauben, dass es von Ewigkeit her das freie, von Nichts außer sich selbst geleitete Wohlgefallen, der bestimmte Vorsatz Gottes gewesen, Sünder zu erlösen… Diesen Personen wurde das ewig Leben in Christo beschieden und zugleich alle Mittel verordnet, die sie zum Glauben an Christum, zur Heiligkeit, und endlich zur ewigen Seligkeit bringen sollten. Solcher Ratschluss Gottes ist unveränderlich und ewig festgestellt, so dass diejenigen, welche er betrifft, die Auserwählten, den Händen Christi nicht entrissen werden können, vielmehr durch Gottes Macht im Glauben und in der Liebe zu Christo bewahret bleiben, bis sie Miterben seiner Herrlichkeit geworden sind“.

Hier klingt es noch gut an: die Bewahrung im Heil. Oberman weist nun darauf hin, warum diese Lehre für viele Protestanten zu einer teuren geworden war: „Die Vertreibung ist der historische Kontext, in dem sich das Dogma der Erwählung und Prädestination entwickelte“. Gerade die Reformierten, die Protestanten der „zweiten Reformation“ nach der „ersten“ überwiegend lutherischen (daher auch sein Buchtitel), waren in Ländern wir Frankreich und den Niederlanden zeitweise starker Verfolgung ausgesetzt. Auf diesem Hintergrund wurde die Prädestinationslehre, vor allem ja von dem Flüchtling Calvin betont, „das mächtige Bollwerk christlicher Glaubender gegen die Furcht, sie könnten dem Druck der Verfolgung nicht standhalten. Die Erwählung ist eine Ermutigung des Evangeliums für die Glaubenden, keine Unheilsbotschaft für jene, denen es am Glauben fehlt.“

Für die Flüchtlinge, so Oberman, „wurde die Prädestination zum Ausweis ihrer Identität. Von Calvin als providentia specialissima bezeichnet, wurde die Prädestination als ‘Führung durch Gottes Hand’ erfahren, im Vertrauen auf ‘seinen Geschichtsplan’ und unter dem Schutz ‘seiner weisen Leitung’.“ Die Kirche auf der Flucht „fand Trost in der Vorstellung der Vorsehung und Erwählung. Das wird in Calvins tief empfundenem Aufschrei sichtbar: ‘Wir haben keine andere Zuflucht als diese Vorsehung’.“

Oberman zitiert Calvins Kommentar zum 2. Timotheusbrief: „Die Beharrlichkeit der Gläubigen [wurzelt] in Gottes Gnade und in seiner ewigen Erwählung, nicht in ihrer eigenen Kraft.“ Der Genfer Reformator war überzeugt: „Die wahre Kirche wird immer der Verfolgung durch Verbannung, Gefängnis und Flucht ausgesetzt sein, denn in dem Augenblick, in dem ein echter Glaubender seinen Glauben an Christus bekennt, beschwört er den Zorn aller Pseudo-Christen herauf.“

Oberman weiter: Calvin „deutete die Schrift im Licht der Verfolgungen der Kirche und wandte sich mit seinen Briefen, Kommentaren und Predigten an die bedrängten Kirchen. Ihre Mitglieder, deren Augen von Blut und Tränen verdunkelt waren, vermochten Gottes Allmacht und Treue nirgends zu erkennen und klammerten sich – gegen das Zeugnis ihrer Sinne – allein an diesem einen Wort fest: der Herr kennt die Seinen, er wird das Werk seine Hände nicht vergessen.“

Augustin, Aquin, Duns Scotus, Zwingli – alle lehrten die Erwählung, einen im Verlauf der Geschichte entdeckten Glaubensschatz. Daher sind wir, so ist Oberman überzeugt, „auf die Einheit der Kirche aller Zeiten und Orten angewiesen: um diese Glaubenserfahrungen zu sammeln, zu erproben und sie – selbst in Zeiten, in denen sie nicht viel gelten und wenig gebraucht werden – für eine ungewisse Zukunft bereitzuhalten.“ Diesen „Aktivposten“ sollen wir „lebendig halten und weitergeben“, „um uns und unsere Kinder für Kommendes vorzubereiten. Denn das Kreuz und die Verfolgung gehören zur wahren Kirche.“

Deshalb dreht Oberman den Spieß um: Nicht die Prädestinationslehre ist das Problem, sondern wir im wohlhabenden und sicheren Norden der Welt, die keinerlei existentielle Erfahrung mit Verfolgung mehr haben – oder noch nicht wieder haben. Er ist daher schließlich „überzeugt, dass wir es bei der Ablehnung der Erwählung nicht mit einem Problem der Theologie Calvins, sondern mit einer Schwäche des modernen Calvinismus und des modernen Christentums insgesamt zu tun haben.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bild oben: Gottesdienst der Hugenotten, der frz. Protestanten, in der sog. “Wüste” (désert); nachdem die Religionsfreiheit 1685 aufgehoben worden war, konnten die Evangelischen nur noch in Verstecken frei predigen.