Quo vadis, Ukraine?

Quo vadis, Ukraine?

So viel Politprominenz war wohl noch nie in der litauischen Hauptstadt versammelt: Präsidenten aus Polen, Lettland und Frankreich, Regierungschefs aus Großbritannien und Italien, aus Österreich und Belgien, aus den Niederlanden und Dänemark, EU-Spitzenpersonal wie Barroso, Van Rompuy und Lady Ashton, und dann noch die Vertreter der östlichen Nachbarn.

Denn die Staaten von Zentraleuropa bis in den Kaukasus standen ja im Mittelpunkt dieses EU-Gipfels. Vor vier Jahren wurde das Programm der „Östlichen Partnerschaft“ ins Leben gerufen. Staaten wie Armenien, Aserbaidschan und Weißrussland werden Zusammenarbeit, finanzielle Hilfe und wirtschaftliche Öffnung angeboten; im Gegenzug sollen dort demokratische Reformen durchgeführt werden.

Diese Ostpolitk der EU hat erste Früchte hervorgebracht: Am 29. November unterzeichneten die Republiken Moldau/Moldawien und Georgien das Assoziierungsabkommen mit der EU – ein 900 Seiten starkes Dokument, das noch keinerlei Mitgliedschaft bedeutet, doch eine Art „Verlobungsvertrag mit der EU“ (Der Spiegel) darstellt.

Die beiden kleinen Länder haben ihre Wahl getroffen, was bei Georgien (im Dauerkonflikt mit Russland) nicht weiter überrascht. Auch Moldawien, Nachbar des EU-Mitglieds Rumänien, ist auf West-Kurs (obwohl eine Partei, die sich als kommunistisch bezeichnet, immer noch stärkste Kraft im Parlament ist!). Die Moldawier ließen sich auch nicht von einem Einfuhrverbot der Russen für Wein, ein Hauptexportprodukt, abschrecken.

Doch im Zentrum des Gipfels stand die Ukraine, immerhin der größte Flächenstaat Europas mit so vielen Einwohnern wie Polen und das Baltikum zusammen. Den Politikern in der EU schwahnte schon Übles, als das Parlament in Kiew ein paar Wochen zuvor wichtige Gesetze nicht annahm, die der Assoziierung den Weg gebahnt hätten.

Der Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, kam nach Vilnius, aber er hatte keine Überraschung im Gepäck. Die deutsche Kanzlerin versuchte noch, den Staatschef der Ukraine herumzubekommen – vergebens. Der Staatschef unterzeichnete das Abkommen nicht. Merkel dem ZDF: „Letztlich hängt es an der Ukraine – ob sie den Mut hat, einen Schritt auf Europa zuzugehen.“

Den Mut hatte sie noch nicht, denn es gab, so Polens Ex-Präsident Kwasniewski, „beispiellosen Druck von der russischen Seite“. Der große Nachbar im Norden der Ukraine will den Staat im eigenen Interessens- und Machtbereich behalten. Und dafür wird gedroht und geködert. Am 9. November lud Putin Janukowitsch zu einem Geheimtreffen. „An diesem Tag besiegelte Putin wohl das Bündnis mit der Ukraine – und stach damit seine Rivalen in Brüssel aus.“ (Der Spiegel, 48/2013) Natürlich ging es dabei auch um Geld, um Milliarden für die notorisch klamme Ukraine.

Tatsächlich hat Russland genug Druckmittel in der Hand. Die ukrainische Industrie und Landwirtschaft ist auf den russischen Markt angewiesen, und wenn Putin will, werden die Grenzen mal eben dicht gemacht (auch Litauen bekam in diesem Jahr diese Schikanen zu spüren). Außerdem hängt die Ukraine am Gas-Hahn der Russen, ist mit 1,3 Mrd Dollar bei Gazprom verschuldet.

In Litauen werden all diese Ereignisse aufmerksam verfolgt, schließlich sieht man sich, gemeinsam mit den Polen, als Sachwalter und Fürsprecher, Helfer und Vermittler der Nachbarn im Osten. Dazu gehören auch deutliche und warnende Worte wie sie die litauische Präsidentin auf dem Gipfel an die Adresse der Ukraine fand. Es überwiegt aber das Positive wie bei den ukrainischen Kulturtagen eine Woche zuvor in Vilnius. „Ich – für eine Ukraine in Europa!“ hieß dort ein Motto.

In Warschau und Vilnius hat man ein besonderes Interesse an der Entwicklung in der Ukraine, denn historisch und kulturell ist man eng mit dem Land verbunden. Die ukrainische (und weißrussische) Nation bildete sich nämlich auf dem Gebiet von Polen-Litauen. Die Zentral-Ukraine und der Norden und Westen waren von etwa 1400 bis zur Auflösung Polen-Litauens um 1800 Teil Litauens bzw. dann der „Republik zweier Nationen“. Diese territoriale Trennung von Moskau ließ überhaupt erst eine sprachliche und kulturelle Identität des Volkes entstehen. Teile der Westukraine gehörten zudem für etwa eineinhalb Jahrhunderte zum Imperium der Habsburger (dort wurden die Ukrainer als „Ruthenen“ bezeichnet) – Lviv/Lemberg im ukrainischen Galizien ist daher eine europäische Stadt wie Krakau und Vilnius. Im Westen des Landes ist auch die mit Rom verbundene Unierte Kirche stark verbreitet (Katholiken mit ‘griechischem’, d.h. slawisch-othodoxem Ritus).

Polen_in_den_Grenzen_vor_1660

Polen-Litauen Mitte des 17. Jhdts.

So ist die Ukraine ein sprachlich, kulturell, historisch und politisch gespaltenes Land: Im Westen und Norden wird am meisten ukrainisch gesprochen, im Osten und Süden (wie vor allem auf der Krim) dominiert teilweise das Russische; im Westen und Norden stimmte man für Juschtschenka und Timschenko, nun wohl für Klitschko und andere Reformpolitiker, im Osten und Süden für  Janukowitsch und seine Partei der Regionen; Im Norden und Westen will man gen EU, im Süden und Osten blickt man nach Russland.

Samuel Huntington nennt daher in seinem Bestseller Kampf der Kulturen die Ukraine „ein gespaltenes Land mit zwei unterschiedlichen Kulturen. Die kulturelle Bruchlinie zwischen dem Westen und der Orthodoxie verläuft seit Jahrhunderten durch das Herz des Landes.“ Er entwirft drei mögliche Szenarien für die Entwicklung des Landes. Massive oder gar bewaffnete Konflikte mit Russland erwartet der US-Politologe nicht (seine erste Version). Die „wahrscheinlichere Möglichkeit“ sei, dass die Ukraine „entlang ihrer Bruchlinie in zwei Teile zerfällt, deren östlicher mit Russland verschmelzen würde.“ Danach sieht es (knapp 20 Jahre nachdem Huntington schrieb) z.Z. aber auch nicht aus.  Eine „westliche orientierte Rumpfukraine… wäre jedoch nur lebensfähig, wenn sie starke und effiziente Unterstützung des Westens hätte“. Der Staat wird wohl stabil bleiben, aber dies könnte der Weg sein (Huntingtons dritte Möglichkeit): Hilfe aus dem Westen – denn sonst hilft nur Putin. Nach dem Russenfreund Kutschma folgte Juschtschenka, auf diesen dann Janukowitsch, und nach diesem… vielleicht wieder ein Freund des Westens (Vitali Klitschko?), und dann wieder die Annäherung an die EU. Wer immer dann an der Spitze in Kiew steht – eine ausgestreckte helfende Hand von Europa wird gewiß nötig sein.

Quo vadis, Ukraine? Wohin gehst du, „Grenzland“ am Rande Europas? Die Jugend des Landes und Hunderttausende, die nun auf die Straßen gehen und die Europa-Flagge schwenken – wie die ukrainische in gelb-blau! – haben schon eine Antwort.