Vernünftig denken heißt richtig denken

Vernünftig denken heißt richtig denken

Am 27. November wird Daniel von Wachter in München zum Thema “Sind Wunder mit der Wissenschaft vereinbar?” sprechen (s. hier). Der junge Philosoph gehört sicher zu den wichtigsten christlichen Denkern im deutschsprachigen Raum. Er hat Theologie und Philosophie in München, Innsbruck und Oxford studiert (dort auch bei Richard Swinburne, dem wohl wichtigsten christlichen Philosophen der letzten Jahrzehnte in Großbritannien). Von Wachters Habilitation erfolgte 2008 an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ein Vorabdruck seiner Habilitationsschrift ist hier herunterzuladen. Dort macht von Wachter auch sehr gute Ausführungen zur Frage der Wunder. Das darauf basierende Buch Die kausale Struktur der Welt: Eine philosophische Untersuchung über Verursachung, Naturgesetze, freie Handlungen, Möglichkeit und Gottes kausale Rolle in der Welt ist im September 2009 im Verlag Karl Alber erschienen. Seit 2012 ist von Wachter Direktor und Professor an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein. Zuvor war er mehrere Jahre in Chile tätig. Empfehlenswert auch sein Vortrag “Existiert Gott?” und dieses Interview auf TheoBlog. Hier nun ein Auszug aus dem Vorabdruck Die kausale Struktur der Welt.

Wachter

Vernünftig denken heißt richtig denken

Fragt man, ob es vernünftig (oder „rational“ oder „gerechtfertigt“) ist, an außerirdisches Leben zu glauben, will man damit fragen, ob es Indizien (und in diesem Sinne „Beweise“) für oder gegen die Existenz außerirdischen Lebens gibt und ob man außerirdische Lebewesen gesehen hat. Das heißt, man fragt, ob von den Dingen, die wir wissen, einige für oder gegen die Existenz außerirdischen Lebens sprechen. Mit anderen Worten, man fragt, ob einige unserer Überzeugungen und unserer Wahrnehmungserlebnisse die Überzeugung, daß es außerirdisches Leben gibt, stützen oder schwächen. Daß jemand eine Überzeugung vernünftigerweise hat, heißt, daß die Überzeugungen im Einklang ist mit seinen anderen Überzeugungen und mit seinen Wahrnehmungen. Vernünftig heißt jemand, der bei der Wahrheitssuche alles richtig gemacht hat und dessen Überzeugungen miteinander und mit allen Informationen, die er hat, im Einklang sind. Fragt man nicht in Bezug auf ein bestimmte Überzeugung einer bestimmten Person, sondern in Bezug auf eine These im allgemeinen, ob sie vernünftig ist, fragt man damit, ob die Dinge, die wir wissen, und unsere Wahrnehmungen diese These wahrscheinlich machen.

Zu fragen, ob etwas der Vernunft entspricht, heißt also nicht zu fragen, ob etwas einem bestimmten Weltbild oder bestimmten Grundannahmen entspricht. Vielmehr stellt sich die Frage nach Vernünftigkeit bei jedem Weltbild. Die Frage, ob es vernünftig ist, das theistische Weltbild anzunehmen, stellt sich ebenso wie die Frage, ob es vernünftig ist, das atheistische Weltbild anzunehmen. Identifiziert man „die Vernunft“ dennoch mit einem bestimmten Weltbild, ist das kein Gebrauch der Vernunft, sondern ein propagandistischer Trick. Sagt man so oft und so nachdrücklich „Nach der Vernunft kann man keine Wunder (Willensfreiheit, indeterministische Vorgänge, oder was auch immer man behaupten möchte) annehmen“, daß viele das nachplappern, hat man zwar die Überzeugung, daß es keine Wunder gibt, weiter verbreitet, aber man hat dann gerade nicht durch die Vernunft überzeugt, sondern durch Überredung und Indoktrination. Durch die Vernunft von etwas überzeugt zu sein, heißt, durch Gründe und Argumente von etwas überzeugt zu sein.

Ähnlich ist es mit der Redeweise „Man kann heute nicht mehr an X glauben“. Es ist sinnvoll zu sagen: „Man kann heute nicht mehr an die Existenz von Lichtäther glauben, weil das Experiment von Michelson und Morley von 1887 es wahrscheinlich gemacht hat, daß es keinen Lichtäther gibt“. Die Redeweise „Man kann heute nicht mehr an X glauben“ ist nur dann sinnvoll, wenn es heute Beweise gibt, die es früher nicht gab. Sie überzeugt nur dann durch die Vernunft, wenn diese Beweise auch genannt und am besten auch erklärt werden. Die oben [im Buch] zitierte Aussage Rudolf Bultmanns beispielsweise, man könne heute nicht mehr an Wunder glauben, ist nur dann sinnvoll, wenn es heute Beweise gibt, die es früher nicht gab. Wann immer an die Vernunft und an das Man-kann-heute-nicht-mehr-glauben-Gefühl appelliert wird und keine Beweise genannt werden, sollte das unseren Verdacht erregen. Wir sollten Argumente fordern; irgend etwas, was den Grund darstellt, weshalb die betreffende These vertreten wird und das uns von der These überzeugen sollte.

Ebenso sollte der Ausdruck „die moderne Vernunft“ oder „die nachmetaphysische Vernunft“ unseren Verdacht erregen, denn Vernunft hat keine Attribute. Es gibt nicht meine Vernunft und deine Vernunft und die Vernunft der Chinesen und die Vernunft der Eskimos, sondern bei jeder Überzeugung, sei sie eine der Chinesen oder eine der Eskimos, ist zu fragen, ob sie vernünftig ist. In einem übertragenen Sinne könnte vielleicht jemand von „der chinesischen Vernunft“ sprechen und damit das meinen, was die Chinesen (d.h. viele Chinesen, oder die Chinesen im Durchschnitt) für vernünftig halten. Doch das ist eine verwirrende Redeweise. Klarer wäre es, einfach von dem zu reden, was „die Chinesen für vernünftig halten“, oder von der „Denkweise der Chinesen“.

Vernunft hat keine Attribute ebenso wie Wahrheit keine Attribute hat. Manchmal wird gesagt „Jeder hat seine Wahrheit“, „Du hast deine Wahrheit, ich habe meine Wahrheit“ oder „Für Müller ist es wahr, daß es einen Gott gibt“. Doch das sind verwirrende Redeweisen, denn gemeint ist dabei eigentlich nicht Wahrheit, sondern Meinung oder Überzeugung. „Für Müller ist wahr, daß es einen Gott gibt“ soll eigentlich heißen, daß Müller glaubt, daß es einen Gott gibt. Was bedeutet nun also der Ausdruck „die moderne Vernunft“ und was z.B. der Ausdruck „Die moderne Vernunft schließt Wunder aus“? Im besten Falle heißt es, daß es nach allem, was wir heute wissen, nicht vernünftig ist, an Wunder zu glauben. Dann müssen aber auch diese Beweise, die es heute, in der „Moderne“ gibt und die man früher noch nicht hatte, genannt und erklärt werden, sonst kann die Aussage nicht vernünftig, d.h. durch Argumente überzeugen. Jürgen Habermas beispielsweise schreibt über die Rede des Papstes, dieser stemme sich „gegen die Kraft der Argumente“, an denen die Synthese zwischen Glauben und Vernunft (Habermas sagt: „Glauben und Wissen“) zerbrochen sei, − nennt aber diese Argumente nicht.

Vielleicht heißt „die moderne Vernunft“ aber: „das, was der moderne Mensch für vernünftig hält“. Dann stellt sich die Frage, wie viele Menschen und welche Menschen genau das Betreffende für vernünftig halten, und aus welchen Gründen sie es für vernünftig halten. Vor allem aber hat die Aussage „die moderne Vernunft kann nicht an Willensfreiheit glauben“ genausoviel Überzeugungskraft wie die Aussage „Die Eskimos glauben, daß in jeder Wolke ein Geist steckt“. Normalerweise drückt man mit dem Wort „Vernunft“ eine Wertung aus. Zum Beispiel sagt man: „Es ist vernünftig, an Willensfreiheit zu glauben“ im Sinne von: „Es gibt gute Gründe für die Annahme von Willensfreiheit“. Oder man sagt von einer bestimmten Person, daß ihre Überzeugungen in sich stimmig seien, oder von einem Gedankengebäude, daß es in sich stimmig sei oder unter bestimmten Voraussetzungen wahrscheinlich sei. Wenn man aber mit der Rede von der „modernen Vernunft“ bloß feststellt, daß der moderne Mensch es glaubt oder für vernünftig hält, drückt man damit eigentlich gar keine Wertung und kein Argument aus. − Und so ist es auch tatsächlich bei den zitierten Aussagen von Rudolf Bultmann und von Wolfgang Prinz. Sooft man diese Aussagen auch liest, findet man darin nichts, was einen überzeugen sollte. Prinz sagt, die Wissenschaft „gehe davon aus“, daß jedes Ereignis durch vorangehende Ereignisse determiniert sei, aber er sagt nicht, weshalb man das annehmen sollte. Um die Vernunft anzusprechen, müßte er sagen, daß bestimmte Experimente oder der Erfolg der Naturwissenschaften im allgemeinen die These stützen (wie ich unten untersuchen werde), daß es keine Willensfreiheit gibt. Auch Bultmann sagt nur, daß der Gedanke des Wunders „für uns heute unmöglich geworden“ sei und daß man sich „heute“ von der Voraussetzung, daß es keine Wunder geben kann, nicht freimachen könne. Aber wer sich dennoch von dieser Voraussetzung freimachen kann oder sogar an ein Wunder glaubt, findet in der Aussage (und auch in Bultmanns Schriften) nichts, was ihn – durch die Vernunft und nicht durch Anregung zum Nachplappern – von der Überzeugung abbringen könnte.