Der Regenbogen auf der Prachtmeile

Der Regenbogen auf der Prachtmeile

In diesen Tagen macht Gewalt gegen russische Homosexuelle Schlagzeilen in den Medien Deutschlands. Nicht auszudenken, dass sich Halbnackte und Buntkostümierte (wie bei den Umzügen zum Christopher Street Day) auf dem Roten Platz oder anderswo in der Hauptstadt Russlands tummeln. Stadtverwaltung, Regierung und vor allem die breitere Öffentlichkeit in dem Land ließen eine Zurschaustellung dieser sexuellen Orientierung nicht zu.

Litauen steht kulturell zwischen der libertinen Kultur des Westen und der homofoben des Ostens. Am 27. Juli konnte der vierte „Baltic Pride“-Marsch der Homosexuellen und ihrer Sympathiesanten in Vilnius stattfinden. Dieses Mal ging es sogar nach langem gerichtlichen Hickhack über den Gediminas-Prospekt, dem Prachtboulevard in der litauischen Hauptstadt. Bürgermeister Zuokas hatte lange versucht, dies zu verhindern; die Stadtverwaltung sah eine andere Demonstrationsstrecke vor. Aber der litauische Verband der Schwulen und Lesben erkämpfte sich den Zug über das Granitpflaster von der Kathedrale bis zum Lukiškis-Platz.

Balticpride III

Anders als in Russland sicherte die Polizei mit vielen Hundert Beamten, viele beritten, die gerade etwa 500 Demonstranten mit der Regenbogenfahne. Nackte Haut, provozierendes Äußeres, sexuelle Gesten – davon war jedoch nichts zu sehen. Und nur ein paar Parlamentsabgeordnete (von den Sozialdemokraten und Liberalen) marschierten in der ersten Reihe von „Baltic Pride“ mit, der übrigens von manchen skandinavischen Botschaften unterstützt wurde. Ganz anders als im Westen kann sich kein Top-Politiker offene Sympathien für die Homosexuellen leisten. Schließlich lehnen etwa Vierfünftel der Litauer eine Schwulenehe kategorisch ab. Angesichts dieser Ablehnung in der Gesellschaft wundert es auch nicht, dass es in Vilnius zahlreiche Gegendemonstranten (s.u.) gab – von Rechtsaußen bis zu katholischen Aktivisten. Am lautesten gebärderte sich wieder Petras Gražulis. Der Seimas-Abgeordnete der Rechtspopulisten von der Partei „Ordnung und Gerechtigkeit“ (angeführt von Ex-Präsident Rolandas Paksas) nutzt jede Gelegenheit zu Provokation und wurde auch dieses Mal unter Widerstand festgenommen.

Balticpride II

Die Kirchen des Landes, die meines Wissens nach alle eine konservative Position in dieser Frage vertreten, hielten sich in diesem Jahr mit Äußerungen sehr zurück. Es scheint, dass man sich etwas auf dem breiten ablehnenden Konsens in der Bevölkerung ausruht. Wozu für seinen Standpunkt argumentieren, wenn keiner in seiner Haltung schwankt?

Doch man beachte, dass z.B. die führenden Nachrichtenmagazine des Landes („Veidas“, „Valstybė“, „IQ“) schon einen ganz anderen Ton anschlagen. In der Woche vor „Baltic Pride“ widmete sich „Veidas“ dem Thema unter der schon vielsagenen Überschrift: „Sexuelle Minderheiten: das Dilemma der Homosexuellen für Litauen – lernen wir anzunehmen oder wollen wir weiter isolieren?“ Ausführlich wird das Beispiel Schwedens vorgestellt. Der baltische Nachbar ist ja seit Jahren Vorreiter bei den Rechten der Homosexuellen (1995 wurde dort die homosexuelle Partnerschaft rechtlich verankert, seit 2009 ist die Ehe grundsätzlich geschlechtsneutral). Litauen begeht dieses Jahr, so Autorin Giedrė Bolzanė, zwei Jahrzehnte Entkriminalisierung der Homosexualität, doch sie fragt, welchen Weg das Land gehen wird: „Werden wir lernen, die Homosexuellen anzunehmen und gleichgeschlechtliche Paar tolerieren, oder werden wir sie weiter ins Abseits der Gesellschaft stoßen?“

Es werden nur die Experten eines Lagers wie Margarita Jankauskaitė zitiert: „Wenn wir eine demokratische Gesellschaft… haben wollen, müssen wir begreifen, dass unsere Werte sich unweigerlich wandeln: die Vielfalt, die schon immer bestanden hat, müssen wir lernen anzunehmen.“ Anerkennung der Vielfalt, das ist das große Stichwort. Auch der bekannte und angesehene Psychiater Danius Pūras kommt zu Wort. Litauen hätte nur eine Wahl: „entweder sich der zivilisierten Welt anschließen und anerkennen, dass Homosexualität als Erscheinung in der Gesellschaft existiert und man dieses menschliche Bedürfnis nicht ignorieren kann, oder aber sich damit abfinden, dass wir weiterhin in der Reihe der zurückgebliebenen Staaten bleiben.“ Er sieht Litauen heute „dichter am Iran“ als am Westen.

Stimmen dieser Art beherrschen die seriösen Medien. Ausführliche Darstellungen der christlichen Position sind praktisch nicht zu finden. Das könnte sich als fatal herausstellen, denn es reicht nicht, sich auf den Konservatismus im Land zu verlassen. Schließlich gibt es Stimmen wie die des jungen christlichen Philosophen Andrius Bielskis, der nach dem ersten Marsch 2010 auf dem größten Nachrichtenportal delfi.lt den Beitrag „Ist Homosexualität Sünde?“ unterbrachte. Dort präsentierte der Professor einer Viniuser Uni die moderne Sicht. Holger entgegnete damals ausführlich in einem mehrteiligen Artikel. Der Anfang seines Textes findet sich im Anhang („Pradigmenwechsel“).

Baltic Pride I

Die Kirchen Litauens sollten das deutsche Beispiel betrachten. Dort ist das Meinungsbild innerhalb einer einzigen Generation regelrecht umgekippt. Eine breite Mehrheit der Deutschen ist inzwischen für eine völlige rechtliche Gleichstellung der Homosexuellen. „Der Spiegel“ schrieb jüngst, wie sich „in den vergangenen zwei Jahrzehnten jede Hierarchie der Lebensmodelle aufgelöst [hat]. Ob mit Trauschein oder ohne, homo oder hetero, long distance oder unter einem Dach, mit ihren, seinen oder unserern Kindern – in weiten Teilen der Gesellschaft sind mittlerweile alle Lebensweisen gleichermaßen akzeptiert.“ (32/2013)

Philipp Gut von der schweizer „Weltwoche“ in der „Welt“: „Kaum eine andere Emanzipationsbewegung hat in so kurzer Zeit so viel erreicht. Von Ächtung und Diskriminierung kann, nüchtern betrachtet, keine Rede mehr sein. “ Er meint sogar: „Es scheint ein irritierender Kult um die Schwulen entstanden zu sein, Homosexualität ist zu einer Art Religion geworden.“

2010 nahm Bundestagsabgeordneter Volker Beck am ersten „Baltic Pride“-Marsch teil, und das Goethe-Institut gibt ihm wie selbstverständlich eine Plattform, s. hier. Auch die  Bundeszentrale für politische Bildung ist, wen überrascht‘s noch, ganz auf der neuen Linie. (s. hier)

Was schon eher überrascht ist, dass manche evangelischen Kirchen meinen, sie müssen auch mit dem Strom schwimmen. In „idea-Spektrum“ (Nr. 31/32, 2013) wird der Leiter der Kirchen von Hessen und Nassau, widergegeben. Volker Jung meinte, „dass Homosexualität ein Teil der Schöpfung Gottes sei. Zwar gebe es in der Bibel eine klare Ablehnung von Homosexualität, doch müsse man heute zu einer anderen Beurteilung kommen… Der Kirchenpräsident hat nichts dagegen, wenn in der hessen-nassauischen Kirche schwule oder lesbische Partner gesegnet werden.“

Auch unter den Evangelikalen ist das Thema längst angekommen. Steve Chalke in England und Rob Bell in den USA (zu Letzterem s. hier) machen sich für eine neue Position stark: gleichgeschlechtliche Paare sollten in den Kirchen volle Akzeptanz finden.

Carl Trueman, in den USA lehrender britischer Theologe, in seinem sehr zu empfehlenden Büchlein The Real Scandal of the Evangelical Mind: „Die drängendste Herausforderung von Seiten der breiteren Kultur ist das ethische Thema der Homosexualität.“ Die kulturelle Haltung zu ihr hat sich schnell gewandelt, und auch die Christen sind da keine Ausnahme. Noch vor knapp 20 Jahren meinte Trueman, dass der Konsens der Christen in dieser Frage stabil sei, schließlich sei die Lehre der Bibel klar. Er gestand bald seinen Irrtum ein und sagte voraus, dass auch die Evangelikalen bald anfangen würden, Zweifel an einer eindeutigen Position aufkommen zu lassen. Der refomierte Kirchengeschichtler:

Trueman

„Es ist vorhersagbar, dass es keinen evangelikalen Konsens zur Homosexualität mehr geben wird, denn die ethischen Erwägungen darüber ruhen auf theologischen Kategorien wie biblischer Autorität, Schöpfung, Fall, Christologie, Erlösung und Vollendung – und in all diesen fragen gibt es auch keine Übereinstimmung unter den Evangelikalen. Da der Evangelikalismus nicht mehr durch lehrmäßíge Bindungen definiert wird, kann und wird es keinen evangelikalen Konsens zur Homosexuaität geben. Verbindet man dies mit der theologischen Laune des starken Drangs, mit am Tisch der Kultur zu sitzen, dann ist die größerer Akzeptanz der Homosexualität unter Evangelikalen garantiert.“

Es ist zu fürchten, dass Trueman recht hat. Was die Evangelikalen retten könnte, wäre eine starke Bekenntnistradition. Aber man hört viel lieber auf Andreas Malessa, der gegen die „mit den Füßen in ihre Traditionen und Überzeugungen einbetonierten Standpunktfetischisten und Lordsiegelbewahrer des Glaubens“ polemisiert. Dogmen und feste Grenzlinien sind out. Auch auf dem Willow-Jugendplus-Kongress in Wetzlar wurde in diesem Jahr die Offenheit großgeschrieben. Im Willow Magazin (2012-3) meinte Torsten Hebel unter „Yes, we are open!“:

„Offen ist gut! Eine Gemeinde die sich den Ruf einer „offenen Gemeinde“ erarbeitet hat, ist wahrscheinlich auch eine wachsende Gemeinde. Denn sie erreicht Menschen, eben weil sie „offen“ ist. Diese Offenheit war eines der markantesten Kennzeichen der ersten Christen. In der Apostelgeschichte lesen wir, dass die erste Gemeinde „Gunst beim ganzen Volk hatte“. Eine schönere Beschreibung für „offene Christen“ habe ich noch nie gelesen.“

Offenheit kann gut sein (z.B. offen für Kritik, Ermahnung usw.), muß es aber nicht. Hebel hat natürlich recht, dass die ersten Christen keine geschlossenen Gesellschaften bildeten, offen für Mitglieder aus allen Gruppen der Bevölkerung waren. Doch dummerweise bleibt unerwähnt, dass das markanteste Kennzeichen der antiken Religionen der Römer und Griechen Offenheit war; sie waren ohne Probleme zu ergänzen durch neue Gottheiten, und sei es Jesus; sie waren tolerant, synkretistisch, offen – das Christentum stellte ein ungewohnt geschlossenes Lehrsystem mit Absolutheitsanspruchs dar. Und das war einer der Gründe für seinen Erfolg.

Hebel fährt fort:

Open

„Ich glaube ein Teil des Problems ist, dass unsere christliche „Festplatte“ in den letzten 2.000 Jahren mit einer Unmenge von teils falschen Daten bespielt wurde. Einiges wurde zwischenzeitlich wieder gelöscht, anderes hinzugefügt, alles in allem aber ist das „Christentum“ zu einem unübersichtlichen Gedankenkomplex geworden, mit ausgesprochenen oder unausgesprochenen Dogmen die, bei genauem Hinsehen, nicht viel gemein haben mit dem, was die „ersten Christen“ geglaubt und, vor allem, wofür sie gelebt haben. Es ist an der Zeit, diese Festplatte zu defragmentieren, Dinge wieder einfacher zu begreifen und die erlösende Kraft des Evangeliums wieder zu öffnen und frei zu setzen. Darum geht es beim Jugendplus­Kongress 2013!“

Dieses oberflächliche Wegwischen der Theologie- und Dogmengeschichte wird uns, um es deutlich zu sagen, an den Abgrund führen. Das Beste dieser 2000 Jahre wird gar nicht gesehen; die Bekennntnisse, die gepaart mit der biblischen Autorität den einzigen Wall bilden, werden nicht zur Kenntnis genommen. Die Sehnsucht nach Einfachheit führt dann zu Werten und Haltungen, wie sie Tony Jones lobt: „openness, nonjudgemental, wherever you are on the journey, inclusive, desire for inclusion“ (The New Christians). Wohin dieses Streben nach Offenheit und Miteinbeziehen in ethischen Fragen führen wird, dürfte – s. Trueman – klar sein.

 

Paradigmenwechsel 

„Ist Homosexualität Sünde?“ – so die Überschrift von A. Bielskis dreiteiliger Artikelserie im Juni-Juli [2010] auf www.delfi.lt. Ein Titel, der natürlich einige Wochen nach dem Baltic Pride-Marsch „der Homosexuellen“ in Vilnius zu vielen Debatten und immer gleich vielen Hundert Kommentaren im Internet führen mußte. Hier, in Litauen. Ganz anders sähe das schon auf der anderen Seite der Ostsee in Schweden aus. Dort gibt es keine Artikel mehr mit dieser Überschrift, hier wird über diese Frage ganz gewiß nicht mehr diskutiert, zumindest nicht in einer breiteren Öffentlichkeit. Dort und anderswo in Westeuropa hat ein Paradigmenwechsel, ein Wandel von grundlegenden Wahrnehmungs- und Denkvorstellungen schon stattgefunden. Auch der Fall von Rocco Buttiglione im Jahr 2004 (der designierte EU-Kommissar hatte Homosexualität als Sünde bezeichnet) zeigte: kein Amtsträger in Staat und Kirche wagt es dort mehr, die beiden Worte „Homosexualität“ und „Sünde“ auch nur in vage Verbindung miteinander zu bringen.

Der Begriff „sexuelle Revolution“, geprägt durch den Buchtitel des Psychoanalytikers Wilhelm Reich (1897–1957), ist durchaus passend für das, was in den letzten Jahrzehnten geschehen ist. Denn man betrachte einmal diesen radikalen Wandel: Wie in den allermeisten Ländern wurden auch in Deutschland mit Paragraph 175 sexuelle Praktiken zwischen Personen gleichen Geschlechts untersagt. Praktizierte Homosexualiät war ein strafrechtliches Vergehen! Dann wurde der Paragraph 1969 und 1973 weitgehend liberalisiert und 1994 ganz abgeschafft (die Entwicklung in vielen anderen Ländern Europas verlief ähnlich). Heute wird in „.de“, dem offiziellen „Deutschland-Magazin“ der Bundesrepublik, in einem statistischen Überblick unter dem Stichwort „Bevölkerung und Migration“ betont: „Die deutsche Gesellschaft ist offen und vielfältig, die Lebensformen ändern sich“. Und speziell wird noch einmal hervorgehoben:

„Lebensformen. Die Arten des Zusammenlebens in Deutschland sind vielfältig. Mehr als 23 Millionen Menschen leben als Paare zusammen, jedoch ohne Kinder. Dazu gehören überwiegend auch 46000 Männer und 230000 Frauen, die mit ihren gleichgeschlechtlichen Partnern in einem Haushalt zusammenleben. Insgesamt gibt es in Deutschland rund 160000 gleichgeschlechtliche Partnerschaften.“  (3/2010)

In Deutschland ist man also von offizieller Seite schon stolz auf die Vielfalt der Lebensformen und die tolerante Haltung gegenüber Homosexuellen. Einige Jahrzehnten zuvor wanderten diese unter Umständen noch ins Gefängnis. Wenn das keine Revolution ist!

Diese Wandlung vollzieht sich jedoch keineswegs einheitlich. Betrachtet man die Karten auf den Wikipedia-Einträgen zu „LGBT rights by country or territory“ oder „Gesetze zur Homosexualität“ sieht man gleich: in Nordamerika stehen die liberalen Staaten des Westens, der Nordosten sowie ganz Kanada dem konservativen Süden und Mittleren Westen gegenüber. Im Europa bilden fast der gesamte Westen, Norden und die Mitte so etwas wie ein Lager gegenüber dem Osten und Südosten. Litauen liegt nahe der ‘Bruchstelle’, die durch die Ostsee verläuft. In weiten Teilen Afrikas (und Asiens) ist praktizierte Homosexualität bei z.T. hohen Strafen verboten. Kulturelle Brüche gehen also durch Kontinente und Länder, auch durch Kirchengemeinschaften wie wir noch sehen werden.

In der Theologie läutete der britische Theologe D.S. Bailey (1910-1984) in Homosexuality and the Western Christian Tradition (1955) diese Epoche des neuen Denkens ein. John Stott (s.u.) geht auf sein Werk und die Thesen des Buches näher ein. Etwa ein Jahrzehnt später brachte auch in Deutschland Helmut Thielicke (1908–1986) in seiner Ethik (Theologische Ethik IIIEthik der Gesellschaft, des Rechts, der Sexualität und der Kunst, 1964) ganz neue Argumente hervor. Der zu Lebzeiten wohl bekannteste evangelische Theologe des Landes, unter Liberalen wie Pietisten bis heute gleichermaßen beliebt, gesteht auf der einen Seite ein: Es kann „kein Zweifel sein, dass Homosexualität und Päderastie vom AT als todeswürdiger Frevel verstanden werden“. Er sieht Homosexualität nun aber dennoch nicht mehr als Sünde, sondern als „Schickung“ (Heidegger hatte diesen Begriff in der Philosophie bekannt gemacht). Thielicke unterscheidet streng zwischen Anlage und „Libido-Exzessen“ – nur Letztere wären z.B. im NT verboten. Außerdem betont der langjährige Rektor der Hamburger Uni: „Die Veranlagung [zur Homosexualität] als solche… darf nicht stärker abgewertet werden als unser aller Existenzstatus [als Gefallene]“. Denn „es besteht nicht der geringste Anlaß, den konstitutionell homosexuellen Menschen moralisch oder theologisch zu diffamieren. Wir befinden uns alle in der gleichen Verdammnis, und jeder hat seinen Teil von ihr abbekommen.“

Das waren damals ganz neue Gedanken, die sich heute aber unter westlichen Theologen weitgehend eingebürgert haben. Auch im Blick auf Röm 1,26f brachte er eine Auslegung ins Spiel, die sich bald durchsetzte: Homosexualität diene für Paulus nur zur Illustration einer bestimmten übergeordneten Aussage, sie ist nur „Aussage-Mittel“, „nicht Gegenstand der Aussage-Intention“, woraus sich „eine gewisse Freiheit zu einer Neubesinnung“ ergebe. Paulus redet zwar von der Homosexualität, meint aber ‘eigentlich’ etwas anderes.

Damit hat Thielicke den Prototyp eines Arguments benutzt und geschaffen, das sich wie ein roter Faden durch alle neueren Versuche zur Aufwertung der homosexuellen Lebensform zieht. Wenn in der Bibel Homosexualität verworfen wird, dann ist im Grunde nicht sie selbst, sondern ein bestimmter Mißbrauch der Homosexualität gemeint – woraus dann geschlossen wird, dass es durchaus so etwas wie einen „guten“ und „gottgefälligen“ Gebrauch der Homosexualität geben soll. Was der Maßstab des guten Gebrauchs ist, kann im nächsten Schritt aus einem beliebigen ethischen System abgeleitet werden. Heute ist zumeist von einer „partnerschaftlichen“ Gestaltung, bei Thielicke von einer „geschlechtlichen Selbstverwirklichung“ nach „ähnlichen Normen… wie im normalen Verhältnis der Geschlechter“ die Rede.

Das große Problem ist jedoch, dass die Bibel nicht den Mißbrauch der Homosexualität in irgendwelchen heidnischen Kulten oder in Vergewaltigungen, sondern uneingeschränkt sie selbst verurteilt. Dies macht allein schon das antike jüdische Verständnis dieser Texte (des AT) deutlich. Die traditionelle Sicht der Bibel soll hier nicht im einzelnen belegt werden, da dies an anderer Stelle schon kompetent geschah. (John Stott beschäftigt sich in einem Kapitel in Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit [„Homosexuelle Partnerschaften?“] mit allen wichtigen Bibeltexten zum Thema; zu empfehlen ist die sehr ausgewogene Stellungnahme der britischen Ev. Allianz „Faith, Hope and Sexuality“, sowie D. E. Malick „The Condemnation of Homosexuality in Romans 1:26-27“, und Gordon Wenhams „The Old Testament Attitude to Homosexuality“; in den USA ist Robert Gagnons The Bible and Homosexual Practice ein wichtige Verteidigung der traditionellen Sicht, s. auch hier; s. schliesslich auch A. Mohlers Kommentare.)

Diese neuen Thesen setzten sich nicht durch, weil sie exegetisch gut begründet und wirklich überzeugend waren. Die Kultur und damit auch die Christen, die zeitgemäß sein wollten, sehnten sich nach diesem Ausweg: es muß doch eine Möglichkeit geben, die klaren Aussagen der Bibel anders zu deuten! Bailey, Thielicke und andere gaben in der Situation das entscheidende Startsignal.

Man muß sich darüber im klaren sein, dass die neue Deutung der Texte nur durch ‘Umpolung’ der biblischen Autorität erreicht werden kann. Und tatsächlich ist die neue Sicht zur Homosexualität eine Frucht von Bibelkritik, die viele Jahrzehnte weite Teile der Theologie gleichsam weichgekocht hatte, so dass das nun die Zeit reif für diese Umpolung war. Auch bei Bielskis wird dies an einer Stelle deutlich: „Hat der von diesen patriarchalischen Sitten angetriebene Paulus nicht zu unrecht verlangt, dass die Frauen in kirchlichen Versammlungen zu schweigen haben (1 Kor 14, 34)?“ Wie immer dieser schwierige Vers zu interpretieren ist – hat hier Paulus zu unrecht etwas verlangt? Wer glaubt, dass Paulus in einer kanonischen Schrift einen Fehler gemacht, eine falsche Lehre aufgestellt hat, der soll dies klar sagen und seine Haltung zur biblischen Autorität offenlegen. Denn es macht schon einen großen Unterschied für eine Diskussion aus, ob man Paulus wirklich ernst nimmt oder ob man ihn – wie so viele im theologisch liberalen Westen – für einen notorischen Frauenverächter und einen sexuell Verklemmten hält.

Ein neues Paradigma macht sich schließlich auch im Hinblick auf den christlichen Glauben selbst breit. Bielskis spricht gerne vom „lebendigen“ oder „herzlichen Glauben“. Ein Satz, den er sicher zu seinen wichtigsten und überzeugendsten hält: „Es gibt zahlreiche an Gott gläubige Menschen, die homosexuell sind“. Und die Forderung nach sexueller Abstinenz verdammt angeblich „Millionen von Gott liebenden und glaubenden Homosexuellen zu unsinnigem Leid…“ Für ihn ist es offensichtlich überhaupt gar keine Frage, dass praktizierte Homosexualität und Glauben in der Realität vereinbar sind. Das ist wohl seine wichtigste Prämisse (von der also ausgeht, die aber belegt werden müßte).

Gerade im ganzen Bereich der Sexualethik ist dies eines der heißesten Eisen überhaupt. Christen der verschiedensten Couleur oder diejenigen, die sich dafür halten, meinen die Freiheit zu allen möglichen Handlungen zu haben, die die Bibel eigentlich untersagt, sei es nun Scheidung (ohne biblischen Grund), Heirat von Ungläubigen, künstliche Befruchtung im Reagenzglas usw. – und all das schade ihrem Glauben, ihrer „Beziehung zu Jesus“ usw. überhaupt nicht. Auch unter Evangelikalen hat sich schon weit ein neues Konzept von Glauben durchgesetzt: was zählt, ist die subjektive Gläubigkeit, der Glaubensvollzug; an was oder wen man glaubt, Glaubensinhalte, Glaubenslehren, geraten in den Hintergrund, erscheinen mehr und mehr irrelevant. Das führt dazu, dass viele glauben gleichsam ein Recht auf diverse private Glaubensvorstellungen und seltsame Bibeldeutungen zu haben. Der Kirche/Denomination läßt man kaum echte Vorgaben machen, was zu glauben sei und was nicht, wie man sich verhalten solle und wie nicht.

Folgt man der Bibel, kann man Bielskis Prämisse nicht einfach übernehmen. Auch wenn solch eine Position schon Minderheitenstatus in vielen Kirchen Europas hat – für den Apostel Paulus schließt nach 1Kor 6,9f praktizierte Homosexualität eindeutig von der Teilhabe am Reich Gottes aus, und es ist bemerkenswert, dass Paulus den entsprechenden Abschnitt mit der Ermahnung beginnt: „Lasset euch nicht täuschen!“ (9b), so als wolle er unterstreichen, dass an dieser Stelle nun gerade mit Irreführung zu rechnen ist. Und selbst wenn Homosexualität hier nicht gemeint wäre – das Prinzip, dass das Festhalten an bestimmten Verhaltensweisen mit dem Christsein nicht vereinbar ist, betonen auch Gal 5,19–21; 6,7; Eph 5,1–20; 1 Joh 3,4–10; 5,3. Wenn Julius Sasnauskas in der „Mazoji studija“[katholisches Radio]-Sendung zum Homosexuellen-Marsch davor warnt, Paulus „zu fälschen“, dann muß aber tatsächlich ernsthaft gefragt werden: Wer verfälscht hier tatsächlich? Ist es wirklich die „traditionelle“ Interpretation des Apostels?

Auch die Evangelischen, die ja betonen, dass in der Rechfertigung die Werke nichts zu suchen haben, haben traditionell immer unterstrichen: gute Taten machen nicht zu einem Christen, doch echter Glaube führt zu einem geänderten Verhalten. Daher heißt im Heidelberger Katechsmus (Fr. 87), 1 Kor 6,9 zitierend: „Können denn auch die selig werden, die sich von ihrem undankbaren, unbußfertigen Leben nicht zu Gott bekehren?“ Antwort: „Keineswegs; denn die Schrift sagt: ‘Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Weichlinge, noch Knabenschänder, weder Diebe noch Habsüchtige, noch Trunkenbolde, noch Lästerer, noch Räuber werden das Reich Gottes ererben’.“

In manchen Ländern des Nordens und in vielen seiner Kirchen mag der Paradigmenwechsel schon vollzogen sein. Hier hofft man sicher darauf, dass sich das neue Paradigma völlig durchsetzt, weil die Vertreter des alten Paradigmas schlicht aussterben (s. Thomas R. Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen). Doch was heute im Norden vielleicht nach einer aussterbenden Minderheit aussieht, ist historisch und weltweit eben keine Minderheit, weshalb hier nun auch ihr Widerspruch erfolgt.