777 Jahre „Schaulen“

777 Jahre „Schaulen“

Seit 20 bzw. 22 Jahren wohnen wir in Šiauliai (spr. Schaulei; dt. Name Schaulen); in der viertgrößten Stadt Litauens wurden alle unsere Kinder geboren. Rima landete hier, weil das damalige Pädagogische Institut (aus dem 1997 die Uni hervorging) 1991 erstmals einen Studiengang Russisch und Deutsch anbot. Holger kam nach Šiauliai, weil in der Stadt ein litauisches christliches Werk seinen Sitz hat, mit dem „projekt L.“/Neues Leben Medien anfangs eng kooperierte.

2013 blickt Šiauliai auf 777 Jahre Stadtgeschichte zurück. Tatsächlich liegen die Anfänge des Ortes weitgehend im Dunkeln. Historisch greifbar ist nur die Schlacht bei Saulė (oder auch Soule, Saulia und Saulen) irgendwo nördlich der heutigen Stadt. Am 22. September 1236 fügten litauische Truppen einem Heer der deutschen Schwertbrüder aus Livland eine vernichtende Niederlage zu. Da eine Siedlung Saulė offensichtlich damals schon bestand, zählt man die Stadtgeschichte von dieser Erwähnung an (2014 wird übrigens Berlin 777 Jahre feiern). Ob der Name von saulė – Sonne, oder von šaulys – Schütze abzuleiten ist, wird diskutiert.

Im Jahr 1445 wurde im gerade christianisierten Land eine erste Holzkirche im Stadtzentrum errichtet (wohl auf einem heidnischen Kult-Ort). 1634 wurde sie durch den heute weiß verputzten Backsteinbau im Renaissance-Stil ersetzt. Das Gebäude ist das sicher älteste in der Stadt, die Mauern überstanden alle Kriege. Der Kirchturm der Peter-und-Paul-Kathedrale ist die Dominante der Stadt und der höchste im ganzen Land.

Die Stadt findet erstmals offizielle Erwähnung in einem Schreiben von Großfürst Sigismund dem Älteren 1524. Das Magdeburger Stadtrecht erhielt der Ort 1589. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wurde Šiauliai mehrmals durch Großbrände verwüstet; Plünderungen durch schwedische Truppen, der Ausbruch einer Pestepidemie und eine erneute Plünderung durch Soldaten der napoleonischen Armee auf dem Russlandfeldzug im Jahr 1812 wirkten sich ebenfalls negativ auf die Entwicklung der Stadt aus. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam der Stadt als Verwaltungszentrum für dreizehn Distrikte der Umgebung dennoch eine große Bedeutung zu. Im späten 18. Jhdt. spielte Antoni Tyzenhaus (1733–1785) aus dem baltischen Adelsgeschlecht der Tiesenhausen ein wichtige Rolle: der Baron setzte als Leiter der „Šiauliaier Ökonomie“ wichtige Reformen durch und ließ die Stadt – ganz im Stil des Klassizismus – im Schachbrettmuster neu anlegen. Bis heute sind die Straßen des Zentrums in rechten Winkeln angeordnet.

Während der Industrialisierung verhalf die günstige geographische Lage der Stadt zum Aufstieg. Šiauliai lag an der Kreuzung der Nord-Süd-Achse (zwischen St. Petersburg und Königsberg) mit der West-Ost-Achse (zwischen Liepāja/Libau an der Ostsee und Vilnius). Der Eisenbahnanschluss 1839 machte die Stadt bald zum wichtigsten Wirtschaftszentrum Nordlitauens. Wohl gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde von deutschen Bürgern die erste lutherische Gemeinde in der Stadt gegründet. Etwa einhundert Jahre später folgte der erste Steinbau, unweit des heutigen Marktes. Kirche und Pfarrhaus wurden nach dem II Weltkrieg zerstört; Reste der Kirchenmauer wurden in das Kaufhaus der Stadt miteingebaut.

Ende des 19. Jhdt. gab es Seiden-, Woll-, Leder-, Zigaretten- und Schokoladenindustrie. Zudem entstanden Bierbrauereien. Von dem neuen Wohlstand zeugt bis heute die prächtige Villa des Leder-Königs Chaim Frenkl. Das vor etwa 100 Jahren errichtete Gebäude des jüdischen Fabrikanten mit Innenarchitektur im Art-déco-Stil sucht im Land seinesgleichen und ist im Baltikum sonst nur in Riga zu finden.

1897 war Šiauliai mit mehr als 16.000 Einwohnern bereits die zweitgrößte Stadt Litauens nach Kaunas. Mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 56,4 % im Jahr 1909 galt Šiauliai daneben als ein bedeutendes jüdisches Zentrum. Nur eine Synagoge hat den Krieg überstanden – und auch diese ist heute reif für den Abriss.

Während des Ersten Weltkrieges waren Šiauliai und seine Umgebung zwischen April und Juni 1915 Schauplatz heftiger Gefechte. Am 17. April wurden das historische Stadtzentrum und etwa 85 % aller Gebäude im Stadtgebiet durch die Kriegshandlungen verwüstet. In der Folge besetzten deutsche Truppen Šiauliai. Die Zeit nach dem Krieg und der Unabhängigkeitserklärung Litauens war eine Periode des Wiederaufbaus und wirtschaftlicher Expansion. Im Jahr 1938 entfielen auf Šiauliai 85 % der litauischen Lederproduktion, 60 % der Schuh-, 75 % der Leinen- und 35 % der Schokoladenerzeugung. Šiauliai blieb auch zwischen den beiden Weltkriegen die zweitgrößte Stadt Litauens.

Deutsche Soldaten im brennenden Šiauliai, Juli 1915

Deutsche Soldaten im brennenden Šiauliai, Juli 1915

Im II Weltkrieg teilte Šiauliai  das Schicksal vieler deutscher, polnischer und russischer Städte und wurde 1944 wieder stark zerstört – keinen anderen größeren Ort des Landes (einmal von Memel/Klaipėda abgesehen) traf es so bitter. Die jüdische Bevölkerung der Stadt wurde in ein Ghetto gepfercht, die der Umgebung meist schon 1941 in den Wäldern erschossen.

Die Sowjets bauten die Stadt nach ihren Vorstellungen wieder auf, so dass stalinistische Klötze aus den 50er Jahren bis heute das Stadtzentrum bestimmen. In den 70er Jahren traf man aber auch eine gute Entscheidung: die Vilniuser Straße im Zentrum wurde zu einer der ersten Fußgängerzonen in der Sowjetunion. Vor einigen Jahren wurden weite Teil der 2km langen Zone mit europäischer Finanzhilfe aufwendig rekonstruiert. So etwas hat sonst nur noch Kaunas mit seiner Freiheits-Allee zu bieten, die jedoch im Vergleich dazu in einem erbärmlichen Zustand ist.

Šiauliai wurde zu einem Zentrum der Elektroindustrie ausgebaut. Wegen vieler Truppen der Roten Armee wurde die Stadt für Ausländer geschlossen. Der Zokniai-Flughafen wurde zum größten militärischen Luftwaffenstützpunkt in der westlichen UdSSR. Die Russen sind seit 20 Jahren verschwunden; nun dient er als wichtiger Umschlagspunkt für Luftfracht. Hier ist auch eine NATO-Staffel stationiert, die den baltischen Luftraum überwacht.

Heute ringt die Stadt mit zahlreichen Problemen. Zig Millionen Litas Schulden belasten das Budget; Tausende wandern ab, so dass die 100.000-Einwohner-Grenze schon in Sichtweite gerät. Der Ort kann aus seiner günstigen Lage nicht so recht Kapital schlagen und bleibt weiterhin im Schatten von Klaipėda, Kaunas und Vilnius. Ein Grund sind sicher die wahrlich provinziellen Stadtregierungen – dynamische und moderne Bürgermeister vom Schlage eines Zuokas in Vilnius oder Griublauskas in Klaipėda hat Šiauliai leider schon seit Jahrzehnten nicht mehr.